Vom Odeon-Wirt zum Antiquitätenhändler

Mit Norbert Senger durch vier Dekaden Georgs- und Kreuzviertel

Es gibt Menschen, die untrennbar mit einem Ort verbunden sind – Norbert Senger ist einer von ihnen. Seit über vierzig Jahren prägt er das Georgs- und Kreuzviertel in Augsburg mit. Erst als Betreiber des legendären "Odeon", heute als Antiquitätenhändler im "Kunst-Werk". Sein Werdegang spiegelt den Wandel des Quartiers wider – von einer Hochburg des Nachtlebens in den 80ern zu einem Ort, der sich heute stark verändert hat. Ein Spaziergang mit Norbert durch seine alte und neue Wirkungsstätte ist eine Reise in die Vergangenheit – und ein Blick auf das, was bleibt.
Von Thomas Krones.

Das Odeon – mehr als eine Kneipe
Als Norbert 1983 das Odeon zusammen mit Christian Laubmeier eröffnete, ahnte er wohl nicht, dass daraus eine Institution entstehen würde. "Es war keine klassische Discothek, keine reine Musikkneipe – eher ein Treffpunkt", erinnert er sich. "Hier kamen Studenten, Punks, Popper, Teddy-Boys, Normalos und sogar Schlagerfans zusammen. Wir hatten immer eine ganz eigene Mischung an Leuten. Divers würde man heute sagen. Sogar einige Zuhälter kamen regelmäßig vorbei." Neben den legendären Rosenmontagsbällen haben besonders die einzigartigen Schlagerpartys, noch lange bevor der Retro-Hype um Dieter Thomas Kuhn oder Guildo Horn begann, das Odeon bekannt gemacht. "Ich habe mal Susis Schlager Sextett in München gesehen – da wusste ich: Das passt perfekt! Sie haben dreimal bei uns gespielt, zuerst noch mit Olli Dittrich als Conférencier. Und wir legten Acid-Jazz auf – Jamiroquai erschienen erst viel später auf der Bildfläche"

Livemusik spielte eine große Rolle – ob Rockabilly, Salsa oder Jazz. "Ich komme ursprünglich aus Dortmund und habe 1967 die Stones in der Westfalenhalle gesehen. Da hat meine Vorliebe für Livekonzerte angefangen. Wir hatten sogar den Enkel von Django Reinhardt hier - im Rahmen des Django Reinhardt Festivals. Die Presley-Family quetschte sich zu sechzehnt auf die Bühne." Auch prominente Gäste aus Sport und Kultur waren keine Seltenheit. "Horst Hrubesch, die Münchener Freiheit, Herbert Grönemeyer, der Eiskunstläufer Norbert Schramm – sie alle haben hier mal gefeiert."

Doch das Odeon war nicht nur für innovative Musik, ausgelassene Partys und extravagantes Ambiente bekannt, sondern auch für seine exquisite Küche. "Ich habe eine persönliche Präferenz für die mediterrane und französische Küche, also gab es bei uns viel in diese Richtung. Aber einige klassische Gerichte kamen einfach dazu, weil die Nachfrage da war - Kaiserschmarrn, Wiener Schnitzel. Und irgendwann - der Fußball-EM und der WM geschuldet - auch die Currywurst - obwohl ich mich lange dagegen gewehrt habe. Und als die dann auf der Karte stand, konnte ich sie nicht mehr runterkriegen".

Das Viertel im Wandel der Zeit
Am Anfang war das Odeon so etwas wie der Eckpfeiler des Viertels. Drumherum siedelte sich erst nach und nach mehr an. Ende der 80er / Anfang der 90er Jahre war das Georgs- und Kreuzviertel dann geprägt von vielen individuellen Kneipen, kleinen Läden und einer bunten alternativen Szene. Neben dem Odeon gab es einige prägende Lokale wie das Giorgio, das Hohe Meer, das Delphi und auch eine spanische Bodega. Die Haifischbar und das Pow-Wow an ihren jeweils ersten Standorten - jedes Lokal hatte seine eigene Handschrift. "Auch der Thorbräukeller war zu dieser Zeit bereits eine Marke. Natürlich mit gänzlich anderem Konzept. Da gab es damals noch richtige Charakterköpfe", erzählt Norbert. "Und es war eine enge Gemeinschaft - auch unter den Wirten. Man kannte sich, man half sich."

Im Laufe der Jahre hat sich die Szene verändert. Viele kleine Läden sind verschwunden. Heute dominieren vor allem teure Wohnungen das Bild. Seinen Charme hat das Viertel nicht verloren, aber es ist weniger rau, weniger unberechenbar. Der Wandel zeigt sich auch im Einzelhandel. Auf dem Kreuz gab es früher einen Bäcker. In der Georgenstraße gab es einen Milchladen, eine Metzgerei, den unverwüstlichen Salon Perocco. Gegenüber der Sebastian-Kneipp-Gasse betrieb der Sportkreisel eine der ersten Indoor-Kletteranlagen Deutschlands und die erste Kletterhalle Augsburgs und ganz Bayerns. Beim Spaziergang durch das Viertel zeigt Norbert auf eine Ecke, in der sich früher ein Sportgeschäft befand, das auf Eishockey spezialisiert war. "So etwas gibt es heute kaum noch", sagt er nachdenklich. "Aber so ist eben der Lauf der Dinge." Und doch hängt er an der Vergangenheit - weil sie ein Stück Identität bedeutet. "Die Geschichten, die Menschen, die Atmosphäre - das alles gehört zu Augsburg und sollte nicht in Vergessenheit geraten."

Vom Wirt zum Antiquitätenhändler
Dass Norbert sich nach 33 Jahren Gastronomie dem Antiquitätenhandel zuwandte, war kein Zufall. "Schon während der Odeon-Zeit habe ich Emailschilder gesammelt. Unser Lokal war voll damit ausgestattet." Seine Leidenschaft für Kunst und Design führte ihn schließlich in die Spitalgasse, wo er einige Jahre ein Geschäft für Jugendstil- und Art-Déco-Möbel betrieb. "Das war damals ein Novum in Augsburg. Ich habe Thonet-Möbel, Bauhaus-Design und Mid-Century-Modern-Stücke verkauft – lange bevor das in Mode kam."
Heute führt er das "Kunst-Werk" in der Georgenstraße. "Designklassiker, wie Bodenvasen, Geschirr, Lampen, Möbel und Dekor vergangener Epochen sind gefragt – Mid-Century ist mittlerweile ein weites Feld. Daneben konzentriere ich mich vor allem auf Malerei aus den 50er- bis 80er-Jahren, Expressionismus fasziniert mich besonders, aber viele Werke in diesem Bereich sind heute unbezahlbar."
Sein Geschäft läuft gut, aber er merkt die Veränderung im Viertel. "Früher kamen mehr Laufkunden vorbei. Heute informieren sich viele erst online und zögern länger mit dem Kauf. Zum Glück habe ich auch viele auswärtige Stammkunden und Interessenten aus Berlin oder München."

Blick in die Zukunft
Was er sich für die Zukunft des Viertels wünscht? "Deutlich weniger Baustellen und wieder mehr Leben. In Augsburg wird ständig aufgerissen und nichts passiert. Das schadet den Geschäften." Und wie sieht er die Zukunft des Quartiers? "Die Entwicklung lässt sich nicht aufhalten. Aber es bleibt zu hoffen, dass einige alte Orte erhalten bleiben - als Erinnerung an das, was das Viertel einmal ausgemacht hat."
Norbert Senger hat diesen Teil der Innenstadt in seinen wildesten Zeiten erlebt - und ist ihm treu geblieben. Sein Kunst-Werk mag ruhiger sein als das Odeon, aber die Leidenschaft für Kunst, Design und das besondere Flair sind geblieben. Und wer mit ihm durch die Straßen geht, erlebt nicht nur eine Zeitreise, sondern erkennt auch, was ein Viertel wirklich lebendig macht: Menschen mit Ideen und einem langen Atem. (tk)

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